Kim erspürt die Welt
Kim entdeckt die Welt anders, als die meisten aus ihrem Umfeld. Da sie fast blind ist, hat sie sich andere Wege gesucht, ihren Geist auf etwas zu lenken. Man kennt es selbst, dass man den Blick durch die Gegend schweifen lässt, während einem jemand etwas erzählt oder vorliest.
Kim kann den Blick nicht schweifen lassen, aber hat ihren "Ankerpunkt" in der Händen, auf welchen sie sich fokussiert, wenn sie anderen zuhört. Sie mag das haptische Gefühl von sich dehnenden Haargummis. Sie mag es auch, das Profil der sich drehenden Reifen ihres Spielzeugautos im Gesicht zu spüren.
Jeder, der gern strickt beim Fernsehen, weiß, dass die Hände sich gern
beschäftigen, während man Inhalte aufnimmt. Und genau so ist es eben auch bei Kim.
Kim wohnt u.a. zusammen mit ihrer langjährigen Freundin Luna in einer betreuten WG. Sie hat ein gemütliches Zimmer, welches ähnlich eingerichtet ist wie das Elternhaus. Auf ihrem Sofa kann sie gut entspannen und beispielsweise Zeit mit Luna verbringen. Als die beiden sich kennengelernt haben, hielt Luna sie zunächst für einen Jungen, weil sie Cappy trug und der Name Kim ja theoretisch für ein Mädchen oder einen Jungen sein könnte. Dieser Irrtum konnte sich dann schnell klären, sorgt aber noch immer für ein Lächeln über die Situation. Heute sind sie beste Freundinnen und sehr froh, dass sie zusammen wohnen können.
Feste Strukturen und Gewohnheiten sind überlebenswichtig für Kim. Abweichungen strengen sie an und bringen sie komplett durcheinander. So ist es ein in Stein gemeißelter, absolut unumstößlicher Termin, sonntags um 10 Uhr mit einem Elternteil in der Joggingkarre eine Tour zu machen.
Und wer Kim kennt, versteht das auch, denn auch da hat sie wieder eine wundervolle Gelegenheit, die Welt so herrlich sinnlich wahrzunehmen.
Wenn die Karre ruckelt, sie die Schritte der schiebenden Person hört (und spürt), wenn der Fahrtwind über die Wange streicht und die Lunge sich mit frischer Luft füllt, dann werden die Sinne angesprochen, und es tut gut, sich so lebendig und frei zu fühlen. Außerdem ist es schöne gemeinsame Familienzeit.
Kims Welt ist manchmal anders als unsere, aber wir können so viel von ihr lernen! Könnte es nicht gut für den Geist sein, Strukturen zu haben und nicht ständig vom Weltgeschehen abgelenkt zu werden? Verlässliche Termine geben dem Alltag einen Rahmen, an welchem wir uns orientieren können. Kim braucht diesen Rahmen, und möglicherweise sind Rituale im Allgemeinen etwas Bereicherndes, was man heutzutage zu vergessen droht.
Es gibt im Leben so vieles, was man mal mit geschlossenen Augen erkunden sollte. Nur einer Geschichte zuhören und dabei spüren, wie sich ein Haargummi dehnt, ist wahre Achtsamkeit und ein "in-dem-Moment-leben". Zu viele von uns denken an das Morgen oder das, was gestern war. Kim kann das besser. Kim ist im Jetzt ganz bei sich und weiß, was sie braucht und lehnt selbstbewusst ab, was ihr gerade nicht passend erscheint. Die Betrachtung ihres Lebens verleitet dazu, selbst einmal wieder innezuhalten und in sich hineinzuspüren oder auch dazu, die Welt mit mehreren Sinnen zu bestaunen.
Kim ist Feuer und Flamme für das Fühlen auf einer anderen Ebene!
Kim - du bist wertvoll!
Fotos: Oliver Clauser